„Das ganze Leben in ein Auto gepackt“

Geflüchtete Jugendliche lesen an der Liebigschule aus ihren Geschichten

v.l.n.r: Sultana Barakzai, Oleksandr Suiarko, Kateryna Klymenko, Ros Ibrahim und Annette Sander

Man hätte eine Stecknadel fallen hören können – im Ethik- bzw. Religionsunterricht der 9. Klassen am Donnerstagnachmittag. Denn so gespannt hörten die Schülerinnen und Schüler zu, als drei junge Geflüchtete der Clemens Brentano Europaschule Lollar in der Lio-Aula aus ihren Texten über ihre Fluchtgeschichten vorlasen. Ros Ibrahim, Kateryna Klymenko und Oleksandr Suiarko, sie besuchen oder besuchten mit Schülerinnen und Schülern aus anderen Ländern, in denen Krieg herrscht oder die aus anderen Gründen ihre Heimat verlassen mussten, die Intensivklasse an der CBES, die Lehrerin Sultana Barakzai leitet. Während der Zeit in der sog. IKL bot sie den Jugendlichen die Möglichkeit, ihre persönlichen Geschichten aufzuschreiben. Das Ergebnis: der Sammelband „Unsere Fluchtgeschichten. Die Flucht in eine fremde Heimat“, erschienen 2023, womit die Autorinnen und Autoren auf Lesereise an Schulen in Stadt und Kreis Gießen unterwegs sind und mit Klassen unterschiedlicher Altersstufen ins Gespräch kommen.

Ros Ibrahim ist in der syrischen Stadt Aleppo geboren, besuchte dort mit ihren Geschwistern die Schule, bis die Familie 2021 wegen des Krieges fliehen musste. Ros‘ Geschichte ist sehr persönlich; sie handelt von Flucht und Vertreibung, von Angst und Hoffnung, vom Ankommen und Fremdsein in Deutschland.
Oleksandr Suiarko ist in der Nähe von Kiew geboren, besuchte dort zuletzt die 9. Klasse und musste von einem Tag auf den anderen sein Zuhause verlassen. Mit seiner Mutter und seiner Schwester floh er über Polen nach Deutschland und schildert eine sehr eindrückliche Szene: „Das ganze Leben in ein Auto gepackt.“
Kateryna Klymenko hat zwar nicht vorgelesen; erzählte aber sehr eindrucksvoll, wie sehr sie ihre Heimat, vor allem die Familie und Freunde, vermisst und wie sehr sie ein schlechtes Gewissen hat, weil sie von hier aus nichts für ihr Land tun kann.

Alle drei haben gemeinsam, dass sie dazu gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen und eine neue zu finden; sie quält das schlechte Gewissen, dass sie dem Krieg entkommen konnten, während andere – Freunde und Familienmitglieder – sich nach wie vor in einer lebensbedrohlichen Situation befinden. Und sie erzählen auch davon, wie gut sie in ihrer neuen Schule aufgenommen wurden, sie erzählen von neuen Freundschaften und neuen wichtigen Erfahrungen.

Organisatorin Annette Sander

Organisiert hatte diesen sehr gewinnbringenden Nachmittag Annette Sander, die an der Lio verantwortlich für Deutsch als Zweitsprache ist. Sie moderierte auch das Gespräch zwischen Schülerinnen und Schülern und Vortragenden.
Oft zeigten sich die Gäste dabei überrascht von den im positiven Sinne ungewöhnlichen Fragen der 9. Klässlern, die mitunter von tiefem Mitdenken und -fühlen zeugten und ganz grundsätzlich ehrliches Interesse am Schicksal der geflüchteten jungen Menschen offenbarten: „Wird der Schmerz irgendwann besser?“,  „Was würdet ihr uns als Tipp geben, wenn ihr wir wäret?“ So und ähnlich lauteten die gestellten Fragen.

Ganz unvorbereitet waren die Lio-Schülerinnen und Schüler übrigens nicht in das Gespräch gegangen: Sie hatten im Ethik- bzw. Religionsunterricht schon im Vorfeld zum Thema Fluchthintergründe gearbeitet und konstruktive Fragen formuliert. Es war jedoch deutlich zu merken, dass im Gespräch selbst – inspiriert durch das persönliche Zusammentreffen mit den Geflüchteten – dann doch spontane Fragen gestellt wurden.

Aus den Rückmeldungen der Lio-Schülerinnen und Schülern zur Lesung ist deutlich zu spüren, dass sie ausnahmslos beeindruckt von den Erzählungen der Gäste sind. Sie haben es als deutliche Horizontwerweiterung gesehen und z.B. geäußert, dass sei Flüchtlinge bis dahin immer eher als anonyme Masse wahrgenommen haben, man mit dem Blick auf Einzelschicksale nun vielmehr begreife, was Flucht eigentlich bedeute. Auch zeigten sie sich beeindruckt davon, wie klug sich die drei Erzählenden hätten ausdrücken können, wenn man die Kürze ihres Aufenthalts in Deutschland bedenke.

Ethiklehrerin Dr. Ursula Reinhardt bringt stellvertretend die Überzeugung der Lehrkräfte zum Ausdruck: „Ich bin überzeugt davon, dass die Schülerinnen und Schülern mehr über zentrale ethische Themen wie „Menschrechte“ gelernt haben, als dass im Rahmen des „normalen“ Unterrichts möglich gewesen wäre.“

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