GIESSEN/BERLIN - "So etwas erlebt man wahrscheinlich nur einmal im Leben", sagte Chorleiter Peter Schmitt strahlend und gelöst nach dem Ende der offiziellen Gedenkfeier anlässlich des Volkstrauertags im Berliner Reichstag (der Anzeiger berichtete). Auf Einladung des hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier hatte der rund 70-köpfige Oberstufenchor die Feier musikalisch mitgestaltet. Entsprechend aufgeregt waren die Schüler und der Chorleiter vor der Sendung, die am Sonntagmittag live aus dem Bundestag übertragen wurde. Und groß war die Erleichterung hinterher. Ein Kurzauftritt beim anschließenden Empfang unter der Kuppel rundete den gelungenen Auftritt ab.
Vergessen war in diesem Moment die harte und intensive Probenphase des vergangenen halben Jahres. "Um so etwas auf die Beine zu stellen, wird allen viel Engagement außerhalb der Schule abverlangt. So mussten wir einige Sonderproben einschieben, um einen stimmigen Klangkörper herauszuarbeiten", erläuterte Schmitt. Das erfordere ein hohes Maß an Konzentration, Disziplin und viel harte Arbeit.
Veranstalter der Gedenkfeier ist der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, für die musikalische Umrahmung ist der Bundesrat verantwortlich. Der derzeitige Bundesratspräsident und bekennender Gießener Volker Bouffier holte gerne den Oberstufenchor der "Lio" in die Hauptstadt, weiß er doch um seine Qualitäten. Bei dem Empfang dankte er den Schülern und Lehrern für die herausragende musikalische Präsentation, die den Liebigschulchor auf Augenhöhe mit bekannten Chören wie dem Tölzer Knabenchor oder dem Leipziger Thomanerchor stellt.
Die Liedauswahl wurde dem Chorleiter überlassen, sie musste lediglich dem Anlass entsprechend sein. Schmitt, der über eine mehr als 30-jährige Erfahrung als Leiter verschiedenster Chöre verfügt, wählte mit sehr viel Bedacht die Werke aus. Er schaffte damit eine musikalisch in sich stimmige Punktlandung, die dem Chor zwar einiges abverlangte, ihn jedoch nie überforderte. Zu Beginn sangen die Schüler wunderbar leicht anmutend das "Ave verum" von Camille Saint-Saens. Nach der Begrüßung durch den Präsidenten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge Markus Meckel, der Lesung von Kathelijn und Philipp Kocks war das "Abendlied" von Joseph Gabriel Rheinberger zu hören, das wie ein Klagelied über den Verlust der vielen Toten der letzten Kriege klang. Dies leitete über zur Gedenkrede des ehemaligen israelischen Botschafters Avi Primor. Den musikalischen Höhepunkt setzten die Sängerinnen und Sänger mit der Trauermotette "Wie liegt die Stadt so wüst" von Rudolf Mauersberger, der diesen Chorzyklus unter dem Eindruck der völlig zerstörten Stadt Dresden nach dem Zweiten Weltkrieg verfasste. Treffender konnte es nicht sein. Mit der Nationalhymne endete die Darbietung.
Für den Auftritt am Sonntag war die Gruppe bereits am Freitagmorgen um 6.30 Uhr in Richtung Berlin gefahren; zurück nach Gießen kam sie erst gegen 23 Uhr am Sonntag - und am Montag war regulär Unterricht. Viel von der Hauptstadt gesehen haben die Schüler nicht - zu sehr ausgefüllt waren die Tage mit dem vorgegebenen Programm und den Proben.
Am Freitagnachmittag waren die Gießener Gast der Hessischen Landesvertretung und bekamen einen authentischen Eindruck über das DDR-Unrechtssystem durch den Bericht der Zeitzeugin Jutta Fleck, die als "Frau vom Checkpoint Charlie" bekannt wurde. Ihre Schilderungen über Verhaftung, Foltermethoden und Repressalien beeindruckten die Gruppe, die sie wissbegierig aufnahm. Samstagvormittag probte der Chor intensiv die Stücke in der Landesvertretung, nachmittags wurde im Plenarsaal der Ablauf minutiös geübt. Nichts wurde dabei dem Zufall überlassen. Mehrmals wurde der gesamte Ablauf durchgespielt: Wann sie aufstehen oder sich setzen sollten. Und zwischendrin wurden die Redebeiträge vorgetragen, damit der zeitliche Rahmen nicht über schritten wird. Zumindest lag es nicht an dem Chor, dass die Übertragung am Sonntag doch 13 Minuten länger war als ursprünglich geplant. Eine ursprünglich angesetzte Gesangsprobe für Samstagabend wurde abgesagt, zu anstrengend war die Vorbereitung am Nachmittag gewesen. Da blieb auch kein Raum mehr für Ausflüge in das Berliner Nachtleben.
Der Sonntag stand komplett unter der Konzertvorbereitung, die bereits um 8.30 Uhr mit der Generalprobe startete. Bis zum Auftritt war etwas Zeit, diese wurde mehr zur Entspannung und Konzentration genutzt, zumal das Wetter mit leichtem Nieselregen nicht zum Spaziergang "Unter den Linden" einlud.
Der Auftritt des rund 70 Schülerinnen und Schüler umfassenden Oberstufenchors der Liebigschule war der bisherige Höhepunkt einer kontinuierlichen musikalischen Arbeit an der Liebigschule. "Ein solches Ergebnis konnten wir nur erzielen, da der gesamte Fachbereich Musik an der Liebigschule ein gutes Team ist", sagte Peter Schmitt ergänzend.