Vom Beobachten zum Beachten
»Ökumenischer Empfang« des Religionspädagogischen Instituts in Gießen unter dem Titel Schule der Zukunft: Als Gastredner machte Rainer Schmidt seine Position zum Thema Inklusion deutlich.
Gießen. »Ich bin so ziemlich der unbetroffenste Betroffene«, lacht Rainer Schmidt. Mittlerweile als Freiberufler und Kabarettist tätig, hat der gebürtige Nordrhein-Westfale schon eine so abwechslungsreiche Karriere hinter sich, von der die meisten nur träumen können: Theologe, Dozent am Pädagogisch-Theologischen Institut in Bonn und mehrfacher Goldmedaillengewinner in der Disziplin Tischtennis bei den Paraolympischen Spielen sind nur einige seiner beruflichen und privaten Highlights, die ihn zum Experten auf dem Gebiet der Inklusion machen.
Schmidt verbinde viele Talente miteinander, weiß Christoph Weber-Maikler, Schulseelsorger an der Liebigschule Gießen, und begrüßt das Publikum zum »Ökumenischen Empfang«. Wie muss »eine Schule für alle, eine Schule der Zukunft« aussehen, in der Jede und Jeder die Möglichkeiten zu einer gesunden Entwicklung hat und in der individuelles Potenzial möglichst zieldifferenziert gefördert wird? Das sind die Leitfragen des Vortrags «(M)ein Traum von Schule – Schule der Zukunft – Eine Schule für alle«, der im Rahmen der Erwachsenenbildung, organisiert von Reli+Oberhessen und dem Religionspädagogischen Institut Gießen, am Freitagabend in der Cafeteria der Liebigschule stattfand.
»Ohne Sehnsucht, ohne Träume, ist kein Leben möglich, ohne Sehnsucht und ohne Träume ist auch Schule nicht möglich«, ist Weber-Maikler sicher. Sein Kollege Ludger Verst, Vertreter der Abteilung Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften im Bistum Mainz, fügt hinzu: Schule der Zukunft beginnt »gemeinsam im Hier und Jetzt« und »nicht irgendwo und irgendwann«! Interreligiöse und interkulturelle Bildung »sehen wir als Chance«. Dabei spiele besonders Kooperation und Inklusion eine zentrale Rolle. Letzteres »ist ja auch heute ganz spielerisch ein Thema«, so Verst.
Der Referent Rainer Schmidt erzählt von seinen ganz persönlichen Erfahrungen und stellt immer wieder den Bezug zu Aufgaben und Chancen inklusiven Unterrichts her, schließlich »kenn ich mich ein bisschen aus«, schmunzelt er. Geboren in einem 400-Einwohner-Dorf, sei er bereits von Geburt an eine Sensation gewesen: »Der Junge hat keine Hände«, habe man gerufen, »Als ich aufgetaucht bin, war meine Oma geschockt!« Die Betroffenheit, in die er sein Publikum mit dieser Geschichte versetzt, lacht der Referent charmant weg: »Keine Angst, ich bin ausgebildeter Notfallseelsorger, ich hol Sie da wieder raus!« »Auch wenn es Startschwierigkeiten gab«, heute könne er alleine essen, sich allein anziehen und habe sogar zwei Berufe gelernt: »Ich hab’s mir zugetraut und davon will ich heute erzählen!«
Sein erster Rat: »Wenn du etwas willst, dann musst du es selbst in die Hand nehmen.« Zwar seien beispielsweise Behindertenkonventionen, die für mehr Inklusion sorgen sollen, ein toller Start, aber: »Das ist erstmal nur Papier.« Wie das in der Praxis umgesetzt werde, hänge schließlich von den Menschen in der Schule, besonders also von den Lehrern ab. Oftmals hätten gerade die Angst vor Inklusion und einer heterogenen Schülerschaft, meint Schmidt, denn natürlich seien damit auch viele Herausforderungen verbunden. Dabei sei es gar nicht zwingend notwendig, Lehrer zu Experten über jede mögliche Behinderung zu machen, schließlich sitzen die Experten in Person der betroffenen Schüler immer schon mit im Klassenraum. »Ich frage nicht, wie können wir die heute bestehende Schule verändern, sondern ich gehe vom Kind aus«, so Schmidt.
Wie hilfreich das sein kann, habe er selbst als Jugendlicher erfahren. Anstatt weiterhin zwei Stunden zu einer weit entfernten Sonderschule zu fahren, entschloss er sich, am nähergelegenen Gymnasium vorzusprechen. Beim Vorstellungsgespräch habe der damalige Direktor »den inklusivsten Satz« gesagt, den er je gehört habe: »Was müssen wir verändern, damit Sie bei uns auf die Schule gehen können? Der Experte für das Leben ohne Hände, der steht vor mir!« Es gehe darum, Möglichkeiten zu schaffen und von einem Beobachten der Schüler hin zu einem Beachten der Schüler zu kommen. Auf der Schule habe er immer mit den Füßen schreiben müssen, erzählt er. Bis zu dem Moment, an dem die Lehrerin durch Zufall entdeckte, dass er auch mit beiden Armen schreiben kann, was er auch Zuhause immer schon so getan hatte: »Das ist doch viel einfacher«, habe er damals gesagt und die Lehrerin in Staunen versetzt. Darüber hinaus müsse eine positive Lernatmosphäre geschaffen werden, in der Selbstwirksamkeit und Bindungserfahrungen zentral sind.
Auch das liege in der Verantwortung der Lehrer: »Wir werden alle unglaublich viel lernen, nicht alle dasselbe, aber wir werden alle unglaublich viel lernen!« Genau das müsse von den Lehrern vermittelt und an die Schülerschaft weitergetragen werden.
Natürlich sei es utopisch anzunehmen, dass alles genau so auf Anhieb funktioniere, aber man könne es zumindest probieren, findet Schmidt. »Eine gute Schule, die vom Kind ausgeht, schafft möglichst viele Herausforderungen«, meint er. Diese Herausforderungen seien für die Einzelperson jeweils unterschiedlich. Das gelte es zu erkennen, schließlich habe Jede und Jeder etwas, was sie oder ihn antreibt. »Dass die genau das wollen, was der Lehrer will, ist unwahrscheinlich«, denkt er, »manche haben einfach nur das Ziel, dazuzugehören.« Aufgabe des Lehrers sei es dann, einen passenden Rahmen zu schaffen. »Der beste Lehrer ist der, der zwei Drittel des Unterrichts chillt, weil er dafür gesorgt hat, dass die Kinder arbeiten.« Das bedeutet auch, dass Kinder zieldifferenziert gefördert werden, voneinander lernen und sich gegenseitig unterstützen müssen: »Die Verantwortung in der inklusiven Schule geht vom Lehrer zum Lernenden!«
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